Interview mit Dr. Ludwig Spaenle über Antisemitismus, Abendzeitung München 05.11.2023

AZ: Herr Spaenle, die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern spricht von einer „noch nie dagewesenen Flut an antisemitischen Vorfällen“. Wie lässt die sich eindämmen?

LUDWIG SPAENLE: Zunächst muss man festhalten, dass es für unser Land eine Schande ist, wenn Auseinandersetzungen in Israel dazu führen, dass hier auf Einrichtungen mit jüdischem oder israelischen Bezug Straftaten verübt werden. Dem muss sich die Zivilgesellschaft genauso stellen wie die Politik. Die Taten, die sich gegen Jüdinnen und Juden oder gegen Einrichtungen jüdischer Organisationen richten, stellen unsere demokratische Grundordnung in Frage. Deshalb ist hier die volle Wucht des Rechtsstaats geboten, so sehr das auch abgedroschen erscheint. Es geht darum, ob unsere Gesellschaft in der Lage ist, ihren eigenen Anspruch als Demokratie durchzusetzen, indem man sich dem entgegenstellt. Das ist erstmal der Überbau und dann gibt es einen ganzen Katalog an Maßnahmen.

Ist so eine Maßnahme, den Kampf gegen Antisemitismus in die Verfassung einzuschreiben, so wie Sie es fordern?

Ja, das ist natürlich etwas, das eine langfristige Wirkung hat. Kurzfristig braucht man andere Methoden, etwa auf die Straße gehen. Das mit der Verfassung ist eine Überlegung, die leider nicht aus Bayern stammt. Es gibt andere Bundesländer, zum Beispiel Sachsen-Anhalt, die vor einigen Jahren den Kampf gegen Antisemitismus in die Verfassung aufgenommen haben. In Brandenburg, Hamburg und Bremen sind solche Prozesse ebenso in den Parlamenten in Gange.

Welche Möglichkeiten würden sich denn durch so eine Verfassungsänderung eröffnen?

Dass man das als Staatsziel in die Verfassung schreibt, verpflichtet natürlich das gesamte Gemeinwesen. Von der Kommune bis zur jeweiligen Regierungsebene. Jetzt kann man natürlich sagen, die allgemeine Menschenwürde schreibt das vor, das ist richtig, aber wir haben einen historischen Hintergrund und besondere Herausforderungen. Deshalb schlage ich für Bayern und letztendlich auch für die Bundesebene eine Verfassungsänderung vor.

Als kurzfristige Methode haben sie genannt, dass Leute gegen Antisemitismus auf die Straße gehen. Wünschen Sie sich, dass das mehr Menschen machen und sich mit den Jüdinnen und Juden solidarisieren?

Das Versammlungsrecht und das Recht auf freie Meinungsäußerung sind das Königsrecht in der Demokratie. Natürlich ist es notwendig, in solchen Situationen, in denen schwere Konflikte – in dem Fall leider mit dem terroristischen Massenmord der Hamas – auch eine Resonanz in unserem Land finden, sich zu äußern und sein Recht als Staatsbürger in Anspruch zu nehmen. Insofern würde ich mir auf mancher sich mit Israel solidarisierenden Veranstaltung durchaus mehr Zuspruch wünschen.

Im Kontrast dazu erleben wir gerade vermehrte Israelfeindlichkeit und Antisemitismus auf pro-palästinensischen Demonstrationen. Woran liegt das?

Natürlich gilt erstmal für alle die Versammlungs- und die Meinungsfreiheit unseres Landes, das ist völlig klar. Man kann natürlich seine Solidarität mit der palästinensischen Bevölkerung ausdrücken. Das hat halt da seine Grenze, wo es um das Existenzrecht Israels geht und die Unterstützung einer Terrororganisation, die Massenmord begangen hat. Dem muss man sich entgegenstellen. Es gibt Antisemitismus aus ganz verschiedenen Bereichen, aber man muss eben feststellen, dass es auch aus dem islamischen Milieu kommt und damit muss man sich ebenso inhaltlich auseinandersetzen. Es ist durchaus legitim, Menschen, die zu uns kommen wollen, zu fragen, ob eine Haltung vorhanden ist, die mit unserer gesellschaftlichen Grundordnung in Übereinstimmung steht, insbesondere was die Frage Israels oder der jüdischen Bevölkerung angeht.

Wie kann denn so eine antisemitisch geprägte Weltsicht abgebaut werden?

Das geht vor allem durch Bildung, Erziehung, Vermittlung von Informationen – das hat ja nicht nur mit Schule zu tun. Gleichzeitig muss eine Gruppe von Menschen oder Milieus, die dafür anfälliger sind, wie etwa der islamische Kulturkreis – das ist nicht nur meine Überzeugung, das ist empirisch-wissenschaftlich durchaus nachvollzogen –, sich damit auf besondere Weise auseinandersetzen, sodass klar wird, dass manche Meinungsbilder nicht gehen, wenn sie bei uns vorgetragen werden.

Neben dem islamischen Milieu unterstützt auch die politische Linke zum Teil israelfeindliche Kundgebungen. Gibt es auch dort ein Antisemitismus-Problem?

Antisemitismus wird in der öffentlichen Wahrnehmung zu größeren Teilen dem rechtsextremen-rassistischen Milieu zugeordnet, was ja auch nicht falsch ist, aber es gibt eine ganze Fülle von anderen Quellen, darunter eine antizionistische aus dem linken oder manchmal gar linksextremen Milieu kommende, die sich massiv mit Israel auseinandersetzen. Da muss man die Kritik ansetzen, dass die Grenzen zu noch so harter Kritik an Israel, wo ja klar ist, dass die an sich möglich sein muss, massiv überschritten werden.

Die Fridays-for-Future-Aktivistin Greta Thunberg hat zuletzt mehrere pro-palästinensische Texte in den Sozialen Medien veröffentlicht. Ist aus linken Kreisen eine besondere Einseitigkeit bei der Beurteilung des Israel-Palästina-Konflikts zu beobachten?

Die politische Linke, auch in der restlichen Welt und das ist ja nicht verboten, hat schon seit Jahrzehnten starke Solidarisierungen zum palästinensischen Volk. Wenn ich höre, dass man Opfer auf palästinensischer Seite beklagt, aber ich höre dann nichts von der terroristischen Attacke der Hamas, dann ist jedoch eine Grenze überschritten.

Es ist legitim, sich mit den Palästinensern und deren Leid zu solidarisieren. Aber der Angriff der Hamas wird dabei oftmals ausgelassen. Ist diese Auslassung schon eine Legitimierung des Terrorangriffs?

Wenn ich auf der anderen Seite mein Recht auf freie Meinungsäußerung und Demonstration in vollem Umfang nutze, um Dinge anzusprechen, die mir im Umgang mit dem, was möglicherweise mit der palästinensischen Bevölkerung geschieht, nicht gefallen, dann muss ich auch die Quellen benennen. Es ist eben nur ein Auge von zwei. Wenn ich dann nichts sage zu dem Völkermord-ähnlichen Massenmord, dann billige ich das schweigend. Dem ist entgegenzutreten, wenn ich in einem freiheitlichen Gemeinwesen lebe.

Israel wird von pro-palästinensischer Seite oftmals Genozid und Apartheid vorgeworfen. Ist da was dran?

Diese Attacke des 7. Oktobers hat Genozid-ähnliche Züge. Die Vorwürfe gegenüber Israel, wie Genozid, Apartheid oder Kindermord sind blanker Judenhass. Da ist jede Legitimation verloren. Genauso wie man jeden Vergleich – spätestens seit dem 7. Oktober – der Hamas mit Freiheitskämpfern als nicht mehr zulässig erachten muss. Die Frage ist, ob wir mit unseren strafrechtlichen Mitteln in ihrer jetzigen Form auf der Höhe der Zeit sind. Es gibt Überlegungen in der Justizministerkonferenz, diesen Straftatbegriff der Zeit vielleicht anzupassen.

Was heißt das konkret?

Dass Tatbestände wie die Leugnung des Existenzrechts Israels und andere Dinge, die nicht von der Volksverhetzung erfasst werden, unter diesen Strafrechtstatbestand fallen, sodass diese Äußerungen dann strafrechtlich geahndet werden können.

In einer Podcast-Folge über Israel von Markus Lanz und Richard David Precht bedienten sich die beiden antisemitischer Klischees. Jetzt sind die zwei aber gebildete Menschen aus der Mitte der Gesellschaft. Wie antisemitisch denkt denn unsere Gesellschaft?

Der Antisemit ist immer der andere. Es gibt auf jeder Seite – links, rechts, islamistisch – einen harten Kern, die das so meinen. Aber viele sagen auch, die anderen sinds. Jemand, der sich als fortschrittlich links versteht, der meint, seine Israelkritik kann gar nicht antisemitisch sein. Deshalb war ich so betroffen, als ich den Podcast gehört habe. Das sind ja zwei äußerst kluge Menschen, die sich miteinander unterhalten haben und wenn dann Sätze fallen, wie, die Juden dürfen nicht arbeiten und wenn, dann dürfen sie bloß Diamantenhandel betreiben und sonst was. Das sind mit die ältesten antisemitischen Klischees, die man verwenden kann. Wenn man das dann anspricht, ist Entrüstung da und es sei gar nicht möglich, dass das ein judenfeindliches Grundding ist, aber es ist genau das. Dann entschuldigt man sich halbscharig und sagt, das ist bei uns im Grunde genommen gar nicht zu kritisieren. Sowas ist bei der großen Reichweite verheerend.

Jetzt sind Markus Lanz und Richard David Precht ja schon gebildet. Was lässt sich da sonst noch machen?

Information, Erziehung, Bildung ist das eine. Das zweite ist, dass man viele Stereotype am Stammtisch, in der Nachbarschaft, am Arbeitsplatz nicht unkommentiert lässt. Da muss sich niemand gefährden. „Wissen Sie was, diese Bemerkung lassen Sie bitte in meiner Gegenwart, das klingt aus meiner Sicht falsch“, könnte man etwa sagen. Wenn das überall stattfände, dann wäre schon ein Wesentliches gewonnen.

Würden bei einer Waffenruhe die antisemitischen Ausschreitungen in Deutschland abnehmen oder ist da bereits etwas entfesselt, das sich nicht mehr richtig einfangen lässt?

Wenn man von der Erfahrung aus der Vergangenheit ausgeht, was schlimm genug ist, dann kann man erwarten, dass die Angriffe auch wieder zurückgehen.